Toeplitz Kolloquium Wintersemester 2017/2018
Kolloquium zur "Didaktik und Geschichte der Mathematik"
Date: November 6, 2017 - January 22, 2018
Venue: Mathematik-Zentrum, Lipschitz Lecture Hall, Endenicher Allee 60, Bonn
Organizer: Stephan Berendonk, Rainer Kaenders und Walter Purkert
Monday, November 6
16:00 - 16:30 | Coffee break |
16:30 - 18:00 | Martina R. Schneider (Wuppertal/Mainz): Wie der Chinesische Restsatz nach Europa kam |
Monday, November 20
16:00 - 16:30 | Coffee break |
16:30 - 18:00 | Hans Humenberger (Wien): Experimente an gefüllten Prismen – was haben Schwerpunkte damit zu tun? |
Monday, January 8
16:00 - 16:30 | Coffee break |
16:30 - 18:00 | Walter Purkert (Bonn): "Das Wesen der Mathematik liegt in ihrer Freiheit." Zum 100. Todestag von Georg Cantor |
Monday, January 22
14:00 - 16:00 | Optionaler Workshop: Der mathematische ‚Königsweg‘: Eine einführende Übung zum Proportionalzirkel, dem universalen Recheninstrument der Renaissance |
16:00 - 16:30 | Coffee break |
16:30 - 18:00 | Michael Korey (Dresden): Deus ex machina. Einblicke in die Mathematik und Mechanik fürstlicher Himmelsmaschinen der Renaissance |
Abstracts:
Martina R. Schneider (Wuppertal/Mainz): Wie der Chinesische Restsatz nach Europa kam
Die Bezeichnung „Chinesischer Restsatz“ signalisiert, dass dieser seinen Ursprung in China hat. Implizit verweist sie aber gleichzeitig über China hinaus auf den Namensgeber: Wer hat den Satz erstmals so bezeichnet? Geht man dieser Frage historisch nach, so eröffnen sich Einblicke in die Verflechtung zwischen Europa und Asien sowie in die Mathematikgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert: Wann und was wusste man in Europa von diesem Satz? Wer beschäftigte sich dort mit chinesischer Mathematik? Warum und wann? Der Vortrag verdeutlicht am Beispiel des Chinesischen Restsatzes die komplexe Rezeptionsgeschichte der alten chinesischen Mathematik im 19. Jahrhundert.
Hans Humenberger (Wien): Experimente an gefüllten Prismen – was haben Schwerpunkte damit zu tun?
Wenn man experimentell prismatische Füllkörper (ca. bis zur halben Höhe mit Wasser gefüllt) neigt, ändern sich klarerweise die „Wasserhöhen“ an den Seitenkanten. Wenn man sich für deren Summe interessiert, kann man feststellen, dass diese bei dreieckigen Prismen gleich zu bleiben scheint. Hier eröffnen sich viele spannende Fragen, die direkt zu „hands-on-“ bzw. DGS-Experimenten führen. Vermutungen können selbständig gefunden werden und im Idealfall können auch Begründungen eine wichtige Rolle spielen. D. h. Mathematik kann im weitesten Sinn als Prozess erfahren werden.
Im Vortrag sollen verschiedene Experimente, Begründungen und die hier zu entdeckende wichtige Rolle von Schwerpunkten thematisiert werden.
Walter Purkert (Bonn): "Das Wesen der Mathematik liegt in ihrer Freiheit." Zum 100. Todestag von Georg Cantor
Die Mengenlehre, die in ihrem Kernbestand, der Theorie der transfiniten Ordinal- und Kardinalzahlen, ganz allein das Werk Georg Cantors ist, hat das Gesicht der Mathematik irreversibel verändert. Sie wurde, wie Hausdorff es schon 1914 vorausgesagt hat, „das Fundament der gesamten Mathematik“. Cantors Ausgangspunkt waren nicht irgendwelche Spekulationen über das Unendliche, sondern ein konkretes Problem der Analysis, das Eindeutigkeitsproblem der Fourierentwicklung. Es führte ihn auf die Notwendigkeit, mit den Ableitungsordnungen von Punktmengen über die Gesamtheit der natürlichen Zahlen sozusagen hinauszuzählen. Später ist es ihm dann gelungen, die transfiniten Ordinal- und Kardinalzahlen allgemein zu definieren; die Ableitungsordnungen waren dann eine Anwendung der allgemeinen Theorie. Auf Cantor gehen ferner wichtige Elemente der mengentheoretischen Topologie und der Maßtheorie zurück. Im Vortrag werde ich auch anhand der Briefe Cantors an Hilbert, die ich vor 30 Jahren entdeckt habe, zeigen, daß er den antinomischen Charakter der „Menge aller Ordnungszahlen“ und der „Menge aller Kardinalzahlen“ seit etwa 1883 kannte, also 14 Jahre vor Burali-Forti und etwa zwei Jahrzehnte vor Russell. Daß ihn die Antinomien der Mengenlehre nicht beunruhigten, ist in seiner Philosophie begründet; sie erklärt auch, warum er im Gegensatz zu Frege und Dedekind auf Burali-Forti und Russell überhaupt nicht reagierte. Ich werde auch kurz auf die Bacon-Shakespeare-Theorie und auf Cantors Krankheit eingehen.
Michael Korey (Dresden): Deus ex machina. Einblicke in die Mathematik und Mechanik fürstlicher Himmelsmaschinen der Renaissance
Weltweit sind nur vier „Planetenuhren“ des 16. Jahrhunderts erhalten: in Paris, Wien, Kassel und Dresden. Diese Uhrwerk-getriebenen Planetarien zählen zu den raffiniertesten Maschinen der Renaissance; ihnen gemeinsam ist der Anspruch, den ganzen Himmelslauf – das tägliche Kreisen der Sterne und das ungleichförmige Wandern der Wandelsterne – nach dem spätantiken geometrischen Ansatz des Claudius Ptolemäus und in Echtzeit wiederzugeben. Mit Förderung der Kulturstiftung des Bundes wurden diese vier Planetenuhren jüngst vergleichend untersucht. Eine aktuelle Kabinettausstellung in Dresden zielt darauf, neue Wege zur Vermittlung der Mathematik und Mechanik hinter diesen wahrhaft fürstlichen „Himmelsmaschinen“ auszuprobieren und zu evaluieren. Der Vortrag bietet eine reich bebilderte Einführung in die Thematik und präsentiert zur Diskussion erste Erkenntnisse des didaktischen Versuchs.